Legasthenie im Berufsleben
Ein Gastbeitrag von Lars Michael Lehmann, Legasthenie-Experte und Fachjournalist
Ob Legastheniker im Berufsleben Erfolg haben, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Legastheniker haben unterschiedliche soziale Hintergründe, besuchen verschiedene Schularten und es ist entscheidend, ob die Betroffenen zusätzliche psychosoziale Probleme entwickelt haben. Es hängt von der Stärke der Schwäche und der frühen Förderung ab, wie sich die Betroffenen bis in das Erwachsenenalter hinein entwickeln werden.
Nicht wenige Legastheniker hatten in der Grundschulzeit schlechte Erfahrungen mit der Schule gesammelt. Daraus resultieren meiner Kenntnis nach die möglichen seelischen Erkrankungen, die sich dann bei Erwachsenen zusätzlich entwickeln können – aber es gibt auch Betroffene, die ihre Schulzeit seelisch unbeschadet überstanden haben. Darum ist die Grundannahme, dass eine Legasthenie automatisch eine Lese-Rechtschreib-Störung ist (wie es die WHO definiert), ungenau. Man kann bezweifeln, dass Betroffene automatisch mit einer seelischen Behinderung oder Krankheit auf die Welt kommen. Diese Annahme hindert Betroffene an einer gesunden und normalen Entwicklung.
In der praktischen Arbeit sind mir nicht selten Legastheniker begegnet, die keine seelischen Erkrankungen davongetragen haben. Andererseits gibt es auch einige Betroffene, die ihre Probleme in der Grundschulzeit nicht bewältigen konnten und später dann verschiedene seelische Probleme entwickelt haben. Diese stammen zumeist aus ihrer Umwelt und haben nicht direkt mit der Legsthenie zu tun. Mögliche Faktoren für den Erwerb dieser psychosomatischen Probleme sind zum Beispiel ein sozial schwaches Elternhaus und eine unzureichende schulische Förderung.
Deshalb ist es strittig, die Legasthenie als Behinderung zu bezeichnen. Eine Legasthenie ist lediglich eine Veranlagung für Lese-Rechtschreib-Probleme, die mit guten Umweltbedingungen gut kompensiert werden kann. Eine frühe und adäquate Förderung ist die beste Prävention in der Kindheit. Dann müssen Betroffene gar keine seelischen Erkrankungen entwickeln.
Da sich die Lebensbedingungen der Betroffenen unterscheiden, sind auch die Verläufe bei Legasthenikern im Berufsleben verschieden. Wahrscheinlich sind diese Bedingungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz ziemlich ähnlich.
Bei Legasthenikern findet man vom Hauptschüler bis zum Akademiker alle beruflichen Sparten. Man wird sie nicht in Berufen finden, wo starke schriftsprachliche Fähigkeiten abverlangt werden. Was nicht heißt, dass man unter den Betroffenen keine Autoren oder Journalisten antrifft. Aber sie werden selten Dolmetscher oder Sprachwissenschaftler sein. Alle anderen Berufe sind für die Betroffenen denkbar.
Bei unserer praktischen Arbeit begegneten uns häufig Betroffene aus sozialen, technischen und kreativen Berufen. Darunter waren auch Professoren oder andere Akademiker. Die beruflichen Möglichkeiten von Betroffenen sind vielfältig. In der heutigen technisierten Welt gibt es gute Hilfsmittel, die bei der Kompensation der Probleme hilfreich sein können. Daher bestehen heute viel mehr Chancen für Legastheniker als vor rund 20 Jahren.
Ein mögliches Hindernis kann sein, dass Betroffene seelische Probleme sekundär zur Legasthenie entwickelt haben, die zu Problemen in der beruflichen Integration führen können. Diese Schwierigkeiten resultieren häufig aus seelischen Verletzungen, die aufgrund von Unverständnis im Schulwesen oder in den Familien erworben wurden. Manche haben leichte depressive Verstimmungen bis hin zu schwereren traumatischen Erfahrungen erlebt. Diese sekundären psychischen Störungen können bei Legasthenikern auch noch im Erwachsenenalter auftreten, andere Betroffene haben dagegen eine starke psychische Stabilität entwickelt. Dies macht deutlich, dass eine Legasthenie keine automatische psychische Störung bedeutet, wie es einige medizinisch orientierte Forscher meinen. Viele Zusammenhänge sind bis heute noch wenig erforscht. Darum ist ein medizinisches Störbild für die Betroffenen nicht hilfreich. Ein liberalerer und pragmatischer Umgang ist für die Betroffenen hilfreicher. Es ist besser, die Schwäche durch pädagogische Förderung und Training zu kompensieren, statt eine Störung zu therapieren, die in der realen Lebenswelt so nicht existiert.
Gelingt es Legasthenikern ihre Biografie zu bewältigen, besteht die Chance, je nach Schwere der Lese-Rechtschreib-Schwäche einen passenden Beruf zu erlernen.
Auch im Erwachsenenalter lohnt es sich, Hilfe bei einem Profi zu suchen, der möglichst die Perspektive der Betroffenen aus eigener Erfahrung kennt. Es braucht für die Bewältigung der Legasthenie viel Knowhow und Einfühlungsvermögen.
So besteht die Möglichkeit, auch als Erwachsener die Legasthenie gut zu bewältigen. Sicherlich ist der Weg nicht bequem – er erfordert viel Selbstdisziplin und psychische Stabilität. Familiärer Rückhalt ist dabei eine wichtige Stütze. Wenn diese Faktoren vorhanden sind, dann bestehen gute Chancen, mit einer Legasthenie einen passenden Beruf zu finden.
Nicht wenige Legastheniker haben durchaus Erfolg im Berufsleben, sie geben es nur nicht preis, dass sie Legastheniker sind. Denn es bedeutet für viele ein Stigma sich zu outen – wer will schon zu einer Behinderung oder psychischen Krankheit stehen, die in der Realität gar nicht so existiert bzw. nicht richtig erforscht ist.
Besser wäre es für die Betroffenen, zu ihrer Legasthenie zu stehen. Ihr Lebensmotto könnte heißen: Ich bin Legastheniker und das ist auch gut so. Und die Wirtschaft sollte sich besser über die möglichen Vorzüge legasthener Menschen informieren, denn nicht wenige sind gute Teamplayer oder auf speziellen Gebieten begabt.
Website: www.legasthenie-coaching.de